Big Tech übernimmt unsere Mediendemokratie

Big Tech übernimmt unsere Mediendemokratie Medienwissenschaftler Martin Andree verlangt, dass die Politik handelt

Die extreme Konzentration bei den digitalen Plattformen gefährdet unsere Demokratie. Wir müssen rasch handeln, sonst ist es zu spät. Das sagt Martin Andree, Medienwissenschaftler an der Universität Köln. In seinem Buch fordert er: Big Tech muss weg. Aber bitte rasch.

Portrait Martin Andree
Martin Andree: Medienwissenschaftler an der Universität Köln und freier Unternehmer in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Performance Marketing.

Herr Andree, Sie sagen: Digitale Medien haben analoge Medien als Leitmedien abgelöst. Worauf stützen Sie diese Aussage?

Auf die Verteilung der Werbeinvestitionen. Werberinnen und Werber gehen dorthin, wo sie die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppen vermuten. 2020 wurde erstmals mehr Geld in digitale als in analoge Werbung investiert. Digitale Medien erzielen also mehr Aufmerksamkeit und sind damit die neuen Leitmedien. Dass die jungen Leute weitgehend digital unterwegs sind, wissen wir sowieso.

Sie sagen weiter: Digitale Leitmedien gefährden die Demokratie. Wo liegt das Problem, wenn Information digital statt analog konsumiert wird?

Erstens: In den digitalen Medien gibt es – anders als bei den analogen – keine Anbietervielfalt. Die grosse Menge existierender Angebote täuscht darüber hinweg, dass meist nur wenige Big Tech-Plattformen genutzt werden. Zweitens: Diese Plattformen besitzen damit die volle Kontrolle über die demokratische Öffentlichkeit. Sie entscheiden darüber, wer was sieht im Netz. Und drittens: In den digitalen Medien werden kaum Nachrichten konsumiert. All das ist demokratiepolitisch problematisch.

Das freie Internet wurde abgeschafft.

Martin Andree

Keine Anbietervielfalt? Das Internet ist doch frei zugänglich.

Theoretisch. In der Realität sehen wir die Monopolstellung weniger amerikanischer Tech-Konzerne. Alphabet, Meta & Co. haben den freien und fairen Wettbewerb im Internet abgeschafft.

Wie kommen Sie darauf?

Aus der Volkswirtschaft kennen wir den Gini-Koeffizienten. Er beschreibt beispielsweise, wie gerecht das Einkommen in der Bevölkerung verteilt ist. Ein Wert von null bedeutet, alle verdienen gleich viel. Ein Wert von eins bedeutet, eine Person besitzt alles, alle andern nichts. Wenden wir den Gini-Koeffizienten auf den Internet-Traffic an, liegt er bei 0,988. Wenige Plattformen beanspruchen fast den gesamten Traffic. Der Rest ist ein riesiger Friedhof.

Klassische Medien haben im Internet keine faire Chance.

Martin Andree

Das erklärt noch nicht, warum im Internet kaum Nachrichten konsumiert werden. Google verlinkt doch auch auf klassische Medien.

Klassische Medien haben im Internet keine faire Chance. Der Traffic ist vorwiegend auf den Plattformen. Dort spielen Nachrichten eine untergeordnete Rolle und stehen in einem Überbietungswettkampf mit Clickbait und Fake News, den sie kaum gewinnen können. Zudem werden externe Inhalte bei Google immer häufiger als Snippets angezeigt, sodass man nicht mehr auf die Quelle klicken muss. Die klassischen Medien verlieren so Traffic und letztlich Werbeeinnahmen. Ebenso werden Posts mit Outlinks – also Links, die auf andere Websites führen – von den Plattformen heruntergeregelt. So bleibt man im Universum der jeweiligen Plattform gefangen. Welchen Stellenwert klassische Medien im Internet haben, illustriert das öffentlich-rechtliche Fernsehen Deutschlands. Sein Marktanteil liegt im analogen Bereich bei 48 Prozent, im Bereich «Video on demand» bei 4 Prozent.

Dabei versprach das Internet einst die Demokratisierung der Gesellschaft …

Das freie Internet wurde abgeschafft. Früher war es eine klassische Netzstruktur mit gleichberechtigten Knoten. Heute leiten die grossen Plattformen den gesamten Traffic in ihre Silos. Der Rest des Internets wird zur Wüste. Demokratie basiert aber auf freien, unabhängigen Medien. Das Netz darf von niemandem kontrolliert werden – nicht vom Staat, nicht von Big Tech.

Ein Fall für die Politik?

Ja.

Reagiert sie?

Nein.

Warum nicht?

Weil sie die Bedeutung der Medien aufgrund ihrer Reichweite beurteilt. Relevant wäre jedoch die Nutzungsdauer. Ein Angebot wie spiegel.de besitzt zwar 49 Prozent Reichweite – klingt toll, nicht? Die Nutzungsdauer ist jedoch bescheiden: Die 29 Millionen User verweilen durchschnittlich 18 Minuten im Monat auf spiegel.de – im Schnitt 35 Sekunden pro Tag. Das ist verschwindend wenig. Aber diese Erkenntnis ist in der Politik nicht angekommen. Deshalb wird das Ausmass des Problems von den Entscheidern nicht erkannt.

Sie schlagen vier Punkte vor, um die Mediendemokratie zu retten. Punkt eins: Trennung von Kanal und Inhalt. Was bringt das?

Das ist ein erprobtes Instrument, um Machtakkumulation im Medienbereich zu unterbinden. YouTube mit einem Marktanteil von 90 Prozent im Gratisbereich Video-on-Demand würde beispielsweise in zwei Gesellschaften aufgespaltet: eine für die den Betrieb der Plattform, eine für den Content. Die Plattform müsste für Drittanbieter gleichberechtigt zugänglich sein, sodass Kreatoren sich bessere Anbieter suchen können, ohne die Plattform zu wechseln. Genauso funktioniert es beim Telefonnetz.

In den USA gibt es entsprechende Vorstösse.

Aber ohne Ergebnis. Weil Big Tech der grösste Exportschlager der USA ist und die Konzerne eng mit der Politik verbandelt sind.

Wäre die EU mächtig genug, ein Regulativ aufzustellen? Wenn ja: Wäre das technisch möglich: Lässt sich das Internet geografisch unterschiedlich regulieren?

Die EU ist ein starker Markt und hat starke Demokratien. Wir können frei entscheiden, welches Mediensystem wir wollen. Zur technischen Machbarkeit: Wir sollten uns die Probleme der Digitalkonzerne nicht zu eigen machen. Wollen die Konzerne an unserem freien und pluralistischen Markt teilnehmen, müssen sie die entsprechenden technischen Lösungen entwickeln.

Punkt zwei: Maximal 30 Prozent Marktanteil von Kanälen, die demokratierelevant sind. Ist das wettbewerbsrechtlich machbar?

Beim deutschen Rundfunk funktioniert das schon lange so. Wieso sollte es für Soziale Medien, Suchmaschinen oder Video-on-Demand nicht möglich sein? Wobei hier die Inhalte gemeint sind, nicht die Kanäle bzw. die Infrastruktur. Das bedeutet: Wir müssen – wie gesagt – auf den bestehenden Plattformen Wettbewerb ermöglichen. Medieninhalte dürfen niemals von Monopolisten kontrolliert werden.

Punkt drei: öffentliches Monitoring der Medienkonzentration. Warum ist das wichtig?

Im Bereich der klassischen Medien gibt es Behörden, die sich mit dem Thema befassen. Und es gibt etablierte wissenschaftliche Methoden für das Medienmonitoring. Bei den digitalen Medien gibt es weder das eine noch das andere. So können wir nicht erkennen, ob wir als Gesellschaft noch die Kontrolle über die digitalen Leitmedien besitzen.

Punkt vier: Haftung für die Inhalte. Heisst das: Jeder Post und jeder Upload muss künftig von den Plattformanbietern geprüft werden?

Wir müssen insbesondere unterbinden, dass demokratiepolitisch relevante Plattformen mit strafbaren Inhalten Geld verdient können. Wer wirtschaftliche Verantwortung übernimmt, muss auch die inhaltliche Verantwortung übernehmen. Auch hier gilt: Wie die Plattformen das technisch lösen, ist ihr Problem.

Wir können das Problem durch Regulierung in wenigen Monaten lösen.

Martin Andree

Welche Verantwortung hat die Werbeindustrie? Sollte sie vermehrt in Qualitätsmedien investieren?

Die Werbegelder fliessen dorthin, wo die Aufmerksamkeit ist. Wenn wir zulassen, dass der Traffic hautsächlich auf den grossen Plattformen stattfindet, kann ich die Entscheidung der Werbetreibenden nachvollziehen – auch wenn ich aus demokratischer Sicht andere Entscheidungen begrüssen würde.

Die technologische Entwicklung ist rasant, die politischen Mühlen mahlen langsam. Wie optimistisch sind Sie für das demokratische Mediensystem Europas?

Ich bin nicht allzu optimistisch, verfalle aber auch nicht in Resignation. Wir können das Problem durch Regulierung in wenigen Monaten lösen, wenn wir wirklich wollen. Aber wir müssen sofort handeln, wollen wir die Mediendemokratie noch retten. In wenigen Jahren wird es zu spät sein.

Zur Person

Dr. Martin Andree (1971) ist Fachmann für Digitales, Marketing und Medien. Er arbeitet als Medienwissenschaftler an der Universität Köln und als freier Unternehmer in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Performance Marketing (AMP Digital Ventures). Zuvor war er als Corporate Vice President bei Henkel im globalen Marketing tätig.

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Zum Buch

Digitale Monopole dominieren zunehmend die politische Meinungsbildung und schaffen die freie Marktwirtschaft ab. In seinem neuen Buch «Big Tech muss weg! Die Digitalkonzerne zerstören Demokratie und Wirtschaft – wir werden sie stoppen» zeigt Martin Andree, wie weit die feindliche Übernahme unserer Gesellschaft durch die Tech-Giganten schon fortgeschritten ist und wie wir das Internet zurückerobern können.

www.bigtechmussweg.de

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